Als erstes möchte ich Sie an einer Geschichte teilhaben lassen. Diese Geschichte, kombiniert mit meinen Worten zeigen meine ersten Schritte in die Selbständigkeit…damals, im Sommer 2021. Ich zeigte mich mit einer Geschichte. Weil ich Geschichten mag. Sehr sogar. Weil sie mich immer wieder berühren und inspirieren. Und weil sie aus dem Leben erzählen.

Als ich ein kleines Mädchen war, war ich ganz vernarrt in die magische Welt des Zirkus. Alles an der Zirkusvorstellung fand ich zauberhaft und faszinierend, am allermeisten aber freute ich mich immer auf den Auftritt des Elefanten. Das riesige Tier stellte seine eindrucksvolle Grösse, seine Geschicklichkeit und seine Stärke zur Schau. Ganz bestimmt konnte ein solches Mammutsgeschöpf mit einem einzigen Ruck einen ganzen Baum ausreissen.
Und dennoch… Das Zirkuspersonal kettete den Elefanten nach jeder Vorstellung an einen kleinen Pflock, der kaum eine Handbreit tief in den Boden geschlagen war. Mir kam das ziemlich seltsam vor. Na schön, die Kette war dick und schwer – aber ein Tier, das kräftig genug war, eine Mauer einzureissen, hätte sich doch spielend leicht von diesem Pflöckchen befreien können.
Was hielt den Elefanten zurück?
Warum machte er sich nicht aus dem Staub?
Ich glaubte, dass die Erwachsenen auf alles eine Antwort wissen. Also befragte ich meine Lehrer, meinen Onkel und meine Mutter nach dem Rätsel des Elefanten. Sie erklärten mir, dass der Elefant sich nicht aus dem Staub machte, weil er gezähmt war. Logischerweise fragte ich weiter: «Und wenn er gezähmt ist und gar nicht wegläuft, warum muss er dann angekettet bleiben?» Auf diese zweite Frage wusste niemand eine Antwort.
Viele Jahre später fand ich heraus, dass zu meinem Glück doch schon jemand weise genug war, die Antwort auf die Frage zu finden.
Der Zirkuselefant war schon von klein auf, und zwar von ganz klein auf, an einen Pflock gekettet gewesen. Ich schloss die Augen und stellte mir den gerade zur Welt gekommenen Elefanten an seinem Pflock vor und wie er Tag für Tag an der Kette zog und versuchte, sich loszumachen...ich sah ihn fast vor mir, wie er jede Nacht von der Anstrengung erschöpft einschlief und sich vornahm, es am nächsten Morgen gleich wieder zu probieren. Doch es nützte alles nichts: Der Pflock sass zu fest für ein so junges Tier, obwohl es ein Elefant war. Bis eines Tages, der kleine Elefant es schliesslich hinnahm, dass er sich nicht befreien konnte und sich in sein Schicksal fügte.
Auf einmal verstand ich, warum der mächtige Elefant angekettet blieb: er glaubt, dass er es nicht kann. Allzu tief hat sich die Erinnerung daran, wie ohnmächtig er sich kurz nach seiner Geburt gefühlt hat, in sein Gedächtnis eingebrannt. Und das Schlimme dabei ist, dass er diese Erinnerung nie wieder ernsthaft hinterfragt hat. Nie wieder hat er versucht, seine Kraft auf die Probe zu stellen.
Manchmal träume ich nachts, dass ich zu dem angeketteten Elefanten gehe und ihm ins Ohr flüstere:
«Weisst du was? Wir sind uns ähnlich. Du glaubst wie ich, dass du manches nicht kannst, weil du es vor langer Zeit einmal ausprobiert und nicht geschafft hast. Aber mach dir klar, dass das eine Ewigkeit her ist und du heute viel grösser und stärker bist als damals. Der einzige Weg herauszufinden, ob du etwas kannst oder nicht, ist, es auszuprobieren, und zwar mit vollem Einsatz. Aus ganzem Herzen.»
– «wie der Elefant die Freiheit fand» von Jorge Bucay in abgeänderter Form –
Manchmal bin ich der Elefant, auch schon war ich der Pflock. Sicherlich auch schon das ankettende Zirkuspersonal. Facettenreich wie eine Zirkuswelt ist mein Wesen. Wach, klar, einfühlsam und kritisch hinterfragend wie das kleine Mädchen. Und ich stehe im Leben. Hier und Jetzt. Mit und durch meine Erfahrungen wage ich den Schritt der Selbständigkeit. Und dies mit vollem Einsatz. Aus ganzem Herzen.